Was tun Menschen eigentlich in der digitalen Welt? Und weiß das Internet wirklich alles über uns? Antworten auf diese Fragen finden sich im neuen „Atlas der digitalen Welt“ von Andree Martin und Timo Thomsen. Es ist der Versuch, das digitale Universum zu messen. Martin Krieg, Leiter des IVW-Bereichs Digitale Medien, hat ihn gelesen – eine #Rezension.
Von Martin Krieg
Der Atlas der digitalen Welt
Der Begriff „Atlas“ geht auf den deutschen Kartografen Gerhard Mercator zurück, der Atlas 1595 als Bezeichnung für sein kartografisches Werk verwendete. Auch mehr als ein halbes Jahrhundert später gibt es – trotz GPS-Navigationsgeräten und digitale Kartendiensten im Netz – gedruckte Atlanten zu kaufen, die die ursprüngliche Funktion einer Sammlung thematisch, inhaltlich oder regional zusammenhängender Landkarten erfüllt. Eine ebensolche Sammlung stellt die (wohlgemerkt: gedruckte) Publikation von Martin Andree und Timo Thomsen dar: der Versuch das „Neuland“ in Karten zu pressen und so ein reduziertes Abbild der deutschen Internetnutzung zu liefern.
Basis für die Analysen von Andree und Thomsen ist das GfK CrossMedia Link Panel. Also ein deutsches Panel, wobei schon klar ist, dass „digital“ nicht an Landesgrenzen Halt macht („overspill“) und gerade, wenn man Ergebnisse über die Nutzung von (vorwiegend US-amerikanischen) Plattformen analysiert, man schnell den nationen-zentristischen Dunstkreis verlässt. Das Internet lässt sich nur schlecht mit geo-politischen Gebilden vergleichen und will man es kartografieren, eignen sich wohl besser Wetter- oder Klimakarten bei denen Hochs und Tiefs genauso wenig an Landesgrenzen halt machen wie Such-, Streaming oder Shopping-Portale nur auf ein Land oder einen Kontinent begrenzt sind.
Worum geht es?
Die Reise mit dem Finger auf der Landkarte startet bei Andree und Thomsen mit den Fragen „Warum wissen wir so wenig über die digitale Welt?“ und „Wie groß ist eigentlich das Internet?“
Die Autoren skizzieren das Paradox der digitalen Intransparenz: „das Internet weiß alles über uns“, aber selbst zu einfachen Fragen über das Internet gibt es keine Daten und zudem bestehe das Problem der Vergleichbarkeit der Daten. Selbst digitale Großunternehmen wissen quasi alles im Kompetenzfeld ihres eigenen Konzerns, darüber hinaus gibt es aber kein Wissen und auf S. 14 liest man „eine große Website weiß viel über ihre User, aber es fehlt auch hier der Kontext und der Abgleich mit dem großen Ganzen“. Für genau diesen „schwarzen Fleck“ auf der Landkarte der digitalen Werbeträger in Deutschland wurde vor einem knappen viertel Jahrhundert (1997) der Prüfbereich Digital (seinerzeit noch Online-Medien) im joint industry committee IVW – Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V. geschaffen: Hier soll mit einer Zensusmessung (wohlgemerkt keinem Panel – also keinem Ausschnitt sondern einer gemessenen Vollerhebung) die Verteilung des Gesamt-Traffics im deutschen Werbeträgermarkt bestimmt werden.
Aktuell „vermisst“ und prüft die IVW dazu 1.500 digitale Werbeträger und ca. 3.000 Top-Level-Domains von rund 16 Mio. (vgl. S. 23) von Andree und Thomsen ermittelten Domains in Deutschland mit der Endung „.de“. Der geneigte Leser wird nun anmerken: 1.500 von 16.000.000? Das ist ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hierzu mehr im Blog-Artikel: Wie relevant sind die IVW-Daten? In diesem Artikel deshalb nur der kurze Hinweis: Die TOP 10.000 Domains in Deutschland machen 85 % des Traffics aus und in der IVW sind sicher rund 3.000 dieser trafficstärksten Domains versammelt. Aber ungeachtet dessen fehlen der IVW natürlich Erkenntnisse zu YouTube, Apple, Facebook, WhatsApp, Google und Amazon (TOP1-6 vgl. S. 18).
Das „digitale Universum“
Ziel des Buches ist es laut den Autoren einen 360 Grad-Gesamtblick zu geben und dazu wählen Andree und Thomsen folgende Hauptkapitel:
- Die Vermessung des digitalen Universums
- Was tun Menschen in der digitalen Welt?
- Die Sphäre der Social Media
- Gebiete von besonderem Interesse (Big 4)
Im Folgenden sollen im Rahmen dieser Rezension jeweils kurz die Kernerkenntnisse, die der Rezensent für sich gezogen hat, dargestellt werden.
Im Kapitel über die Vermessung des digitalen Universums führen die Autoren aus, dass viele Domains auf dem „Friedhof nicht nachgefragter Content-Angebote“ (S. 28) lägen und führen den aus den Wirtschaftswissenschaften bekannten Gini-Koeffizient zur Ermittlung der digitalen Konzentration ein: Der Gini-Koeffizient der gemessenen Aufmerksamkeit im Netz (gemessen in Duration) liegt bei 0,988. Das heißt bei nahezu einem Unternehmen liegt die ganze Aufmerksamkeit im Netz. Es werden drei Gründe für die Konzentration im Netz aufgeführt:
- Matthew Hindemann (S. 34) Matthäus-Effekt: The Winner takes it all – Suchmaschinen und Plattformen verstärken diesen Effekt (Algorithmen der Selektion). Die niedrigen Eintrittsbarrieren in den digitalen Markt gibt es nicht. Große Player haben Unsummen in Technologie investiert (+ Marketing) und haben einen historischen Vorsprung (first come).
- Früher offenen Standards (1980er) wurden in den letzten 15 Jahren vor allem geschlossenen Standards („walled gardens“) z.B. Mailprogramme: von Windows-Outlook kann man an Gmail senden, aber nicht aus Facebook heraus an eine andere Plattform.
- Reflexivität: Marktwirtschaft wird anhand von Bewertungen ausgehebelt (Transparenz). Im Netz werden immer neue Feedbackstrukturen eingeführt.
Ein Wachstum im Digitalbereich komme nur durch zusätzliche Nutzer zustande: In den Kohorten ab 60 Jahren oder durch nachwachsende starke Geburtenjahrgänge. Die Dauer steigt nur bei den älteren Nutzern, bei den Jungen ist die Nutzungsdauer konstant, eher rückläufig (vgl. S. 46).
Im Kapitel „Was tun Menschen in der digitalen Welt?“ beleuchten die Autoren die erwartbaren Bereiche und stellen Nutzungsbefunde aus dem GfK-Panel zu Bewegtbild, Kommunikation (Kommunikation findet zu 87% auf mobilen Endgeräten statt) und Soziales Netzwerken, Nachrichten, Web-Search, Einkaufen und Pornografische Inhalte dar. Das Kapitel wird durch eine Zusammenfassung der Nutzungsaktivitäten abgeschlossen.
Weil für die IVW von besonderem Interesse etwas ausführlicher, was die Autoren zu Nachrichten ausführen: Versuche man Print- und Onlinereichweiten führender Nachrichtenangebote zu vergleichen, liege online weit über der Printreichweite: um 25- bis 258-faches höher als die gedruckte Auflage. Selbst wenn man die Mehrfachnutzung von Printexemplaren berücksichtige (LpA liegt bei ca. 2,7 „Zeitungsqualitäten“) erreicht Print nicht das Digitalniveau. Es handle sich um „zwei Sphären [,die] sich kaum miteinander vergleichen“ lassen. Im Part „Offline versus Online – Nachrichtenkonsum in der Gutenberg-Galaxis“ liefern Andree und Thomsen wertvolle Hinweise für die Diskussion zu einer „Gesamtzahl“ (Print/Online), die in der IVW momentan geführt wird.
Im Kapitel „Die Sphäre der Social Media“ ziehen die Autoren einen Vergleich zwischen Privatfernsehen und Social Media. Sie führen aus, dass Privatfernsehen durch niedrige Programmkosten und hohe Aufmerksamkeit der Zuschauer („Arbeit für den Sender“) die Einnahmen durch Werbung steigern und somit einen Gewinn erwirtschaften (vgl. S. 136). Bei Social Media entfallen sogar noch die Kosten für die Erstellung des Programms, weil die Zuschauer/Nutzer durch ihren Content für die Plattform „arbeiten“. Dazu bemühen Andree und Thomsen den Mark Twain Klassiker „Tom Sawyer“, der andere für sich arbeiten lässt und sich dafür noch entlohnen lässt (Gartenzaun streichen). Plattformen funktionieren durch ein „Arsenal von psychologischen Entlohnungen“ Friends, Follower, Fans / Likes, Shares, Kommentare.
Abgerundet wird der Atlas durch das Kapitel Deep Dive in welchem die Big 4: Facebook, Alphabet, Apple, Amazon vorgestellt werden und dem Wichtigsten zum Schluss – in diesem Kapitel werden die Kernbefunde nochmals komprimiert dargestellt und das Buch durch ein Glossar abgerundet.
Ein Buch, das zum Nachdenken anregt
Für alle die sich für digitale Medien / Werbeträger interessieren oder professionell damit zu tun haben, sei der „Atlas der digitalen Welt“ von Martin Andree und Timo Thomsen empfohlen. Nicht so sehr, weil ihre Befunde weltbewegendes, unbekanntes oder wirklich gänzlich Neues zu Tage fördern würden. Alle die sich mit dem „Neuland“ beschäftigen wissen grob um die Nutzung Bescheid und können mit dem quasi-statistischen Wahrnehmungsorgan (oder auf Basis eigener [anderer] Daten) einschätzen, wo viel Nutzung im Netz ist und welche Bereiche eher weniger frequentiert werden. Wie im Prolog von den Autoren bereits erkannt, wissen wir es nicht im Detail und die Quellen, wie man die Nutzung misst, sind mannigfaltig: ob nun das GfK CrossMedia Link Panel das Mittel der Wahl ist, überlasse ich jedem selbst. Die Stärke von Andree und Thomsen liegt für mich vielmehr darin, dass Sie mit ihren Befunden zum Nachdenken über den eigenen Bereich anregen und durch ihre Kapitelintros und kartografischen Ausschnitten aus unterschiedlichen Nutzungsbereichen im Internet einen interessanten Fokus mit teils neuen Erkenntnissen auf bestimmte Faktoren legen. Außerdem ist das Layout (Satz) des Buches sowie die Infografiken, Abbildungen und Tabellen gut, in einem angenehmen Format und auf geschliffenem Paper. Insgesamt: Gelungenes Sachbuch!