Durchblick in der digitalen Welt

Bildquelle: Weizenbaum-Institut / Kay Herschelmann.

Das Ende des Cookie-Tracking ist absehbar. Nun gilt es, alternative Ansätze zu finden. Wird es ein „Comeback der klassischen Umfeld-Planung“ für Werbung im Netz geben? Prof. Christoph Neuberger spricht sich dafür aus, bei der Planung von Digitalwerbung künftig den passenden redaktionellen Umfeldern deutlich mehr Gewicht zu verleihen.

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Christoph Neuberger,
erstmals veröffentlicht im IVW-Geschäftsbericht 2019/20

Schlechte Sichtverhältnisse und Zerrbilder? Wie man in der digitalen Welt den Durchblick behält.

Wie behält man in der digitalen Welt den Durchblick? Wie ändern sich dort die Sichtverhältnisse? Die Mediengeschichte zeigt: Neue Medien haben stets die Wahrnehmungsmöglichkeiten erweitert, etwa das Fernsehen. Es hat weit Entferntes ins Sichtfeld gerückt. Ereignisse wie die Krönung der Queen und das Finale der Fußball-WM 1954 in Bern konnten auf einmal in Echtzeit miterlebt werden.

Doch nicht nur physische Distanzen hat das Fernsehen überwunden, sondern auch soziale Grenzen. Dies hat der Medienwissenschaftler Joshua Meyrowitz in seiner bekannten Studie über die Fernsehgesellschaft („No Sense of Place“) gezeigt. Das Fernsehen bohrte gewissermaßen Gucklöcher in die sozialen Wände: Kinder bekamen besseren Einblick in die Erwachsenenwelt; Frauen erfuhren mehr über die Arbeitswelt der Männer; Bürger konnten auf dem Bildschirm Politiker aus der Nähe beobachten. Über den Bildschirm flimmert seither die bunte Vielfalt des Lebens. Wer dabei sein will, muss nicht mehr physisch anwesend sein. Und alles, was das Fernsehen trotzdem nicht zeigen kann, stellt es einfach in der Fiktion nach.

Einseitiger Blick: die halbierte Öffentlichkeit der Massenmedien

Dennoch blieb eine wesentliche Einschränkung: Der Blick des Fernsehens (wie auch der anderen Massenmedien) ist einseitig. Die Öffentlichkeit ist halbiert, denn nur die Empfängerseite kann lesen, hören und sehen. Das Publikum von Presse und Rundfunk hingegen bleibt für die Senderseite relativ unbestimmt – erst die Verbreitungs- und Nutzungsforschung klärt nachträglich darüber auf, wie viele sich vor dem Fernsehen versammelt oder die Zeitung zur Hand genommen haben, ohne dabei die Privatsphäre zu verletzen.

Diese personelle Unbestimmtheit, Unabgeschlossenheit und damit mangelnde Kontrollierbarkeit des Publikums besitzt für die Demokratie sogar eine wichtige Funktion: Schon Immanuel Kant sah in der Öffentlichkeit eine Prüfinstanz, um Recht und Unrecht, Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. Öffentliche Auftritte sind riskant, weil prinzipiell jeder Widerspruch erheben kann und viele davon erfahren können. Damit hat sie einen disziplinierenden Effekt und bringt Sprecher dazu, bei der Wahrheit zu bleiben. In diesem Fall ist die Intransparenz transparent: Wer sich öffentlich äußert, der weiß in der Regel, dass er nicht weiß, wer sich alles im Publikum befindet, und darauf kann er sich einstellen. Transparente Transparenz besteht höchstens in kleinen, überschaubaren Situationen. Hier weiß jeder, wer sonst noch anwesend ist, und jeder weiß, dass die anderen dies wissen. Je größer die Personenzahl ist, desto schwerer fällt es natürlich, den Überblick zu behalten – etwa in Menschenmassen auf Plätzen oder in Fußballstadien.

Intransparente Transparenz: Machtgefälle im Internet

Wie sind nun die Sichtverhältnisse im Internet? Der erste Eindruck ist, dass sich die Transparenzzone ganz erheblich ausgeweitet hat. Man gewinnt Einblick ins Privatleben von Prominenten oder findet alte Freunde wieder, die man aus den Augen verloren hat. Ländergrenzen stellen keine Hindernisse mehr dar. Alles, so scheint es, ist höchstens eine Google-Suche oder einen Mausklick weit entfernt. Die digitale Welt ist eine Welt des Sehens und Gesehen-Werdens, weil sich prinzipiell jeder zu Wort melden oder ein Profil in den sozialen Medien anlegen kann. Dennoch ist die Vorstellung falsch, dass im Internet ein „globales Dorf“ (Marshall McLuhan) entstanden ist. Das Idyll des Dorfplatzes, auf dem sich alle begegnen und jeder jeden kennt, lässt sich nicht auf Weltmaßstab vergrößern. Nein, die Lage ist komplizierter: Wir haben es mit vielen unterschiedlichen Beobachterkonstellationen zu tun. 

Neuartig und massiv zugenommen hat der Fall der intransparenten Transparenz: Hier wissen einige machtvolle Beobachter etwas über andere, die aber oft nicht einmal ahnen, dass sie beobachtet werden und was mit ihren Verhaltensdaten geschieht. Shoshana Zuboff beschreibt in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ am Beispiel von Google, wie die Sammelwut bei Daten keine Grenzen mehr kennt:

Während in einer ersten Phase die Verhaltensdaten noch für die Verbesserung der Suchergebnisse zu Gunsten der Nutzer eingesetzt und vollständig aufgebraucht wurden, werden seit der Einführung personalisierter Werbung Daten als „Verhaltensüberschuss“ gesehen, als Rohstoff, der für viele Zwecke eingesetzt werden kann, um Verhalten zu prognostizieren und zu lenken. „Vorhersageprodukte“ können alle Bereiche menschlichen Handelns betreffen, für die sich Spuren im Netz finden.

Weil die analoge Welt in Datenform verdoppelt wird, können durch Berechnung neuartige „Muster“ (Armin Nassehi) entdeckt werden, also Regelmäßigkeiten des individuellen und kollektiven Verhaltens, die ansonsten verborgen geblieben wären.

Dies eröffnet der Forschung neue Möglichkeiten, aber liefert auch die Grundlage für den digitalen „Überwachungskapitalismus“ von #GAFA und den digitalen „Überwachungsstaat“ (Kai Strittmatter), wie er derzeit in China entsteht. Der #Datenschutz stellt in der Europäischen Union mittlerweile hohe Anforderungen an die Bedingungen und Grenzen des Datensammelns, an die Transparenz für die Beobachteten und ihre Einwilligung.

Internetwerbung zwischen Content- Beliebigkeit und Qualitätsjournalismus

Noch deutlicher muss darüber hinaus die Frage nach dem Zweck gestellt werden: Daten können nicht nur ökonomischen, sondern auch publizistischen Zwecken dienen. So fordert Tarleton Gillespie in seinem Buch über die Wächter des Internets („Custodians of the Internet“), dass Plattformen die Daten so einsetzen, dass auch die Nutzer etwas davon haben, und zwar in ihrer Bürgerrolle: Ihnen sollten nicht nur Mitspracherechte bei der Verwendung der Daten eingeräumt werden, sondern mit ihrer Hilfe sollte auch sichtbar gemacht werden, wie Konfliktlinien in politischen Diskursen verlaufen und wie groß die Vielfalt der Themen und Meinungen ist.

Diese Hoffnung dürfte allerdings vergeblich sein, solange Plattformen eine Haltung der „radikalen Indifferenz“ (Zuboff) gegenüber der Qualität ihrer ausgespielten Inhalte einnehmen, weil sie nicht entscheidend für den Geschäftserfolg ist.

Diese Content-Beliebigkeit unterscheidet Plattformen fundamental von journalistischen Medien: Deren Primat ist die Qualität ihrer Inhalte – und darüber finden sie ihr Publikum. Der Journalismus will den Horizont erweitern und Filterblasen zum Platzen bringen. Plattformen hingegen fragen zuerst, was der Nutzer wollen könnte, und suchen erst im zweiten Schritt passende Inhalte und Werbebotschaften. Dieser Unterschied ist im Auge zu behalten, wenn es um die Frage geht, welche Daten benötigt werden: Im Journalismus ist es wichtig, wie viele Nutzer das eigenproduzierte Angebot erreicht – entscheidend ist nicht die individuelle Nutzerbiografie. Insofern ist das absehbare Ende des Cookie-Tracking weniger problematisch, als es zunächst erscheinen mag.

Jürgen Scharrer hat in „Horizont“ (9/2020) ein „Comeback der klassischen Umfeld-Planung“ für Werbung im Netz angekündigt. Die Schlussfolgerung lautet also:

Die Platzierung von Werbung im richtigen redaktionellen Umfeld ist wichtiger als ihre Personalisierung.
Christoph Neuberger

Über den Autor

Prof. Dr. Christoph Neuberger lehrt an der Freien Universität Berlin im Fach Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Seit Februar 2020 ist er zudem Geschäftsführender Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft. Sein Arbeitsschwerpunkt ist der digitale Wandel von Medien, Öffentlichkeit und Journalismus. Christoph Neuberger ist ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW) und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech).

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